Zur Entstehung der Deutschen Gesellschaft für Medizinische Soziologie e.V. im Jahr 1972
Vorbemerkung (Ulrich Stößel und Alf Trojan)
Die deutsche Gesellschaft für Medizinische Soziologie (DGMS) kann sich glücklich schätzen, dass ihre Gründungsgeschichte im Jahr 1972 und den Folgejahren nicht nur anhand von schriftlichen Aufzeichnungen und archivarischen Dokumenten nachgezeichnet werden kann, sondern dass zwei ihrer Gründungsmitglieder als Zeitzeugen hier wiedergeben, wie diese Fachgesellschaft entstanden ist. Natürlich fließen in diese Beschreibung auch Gewichtungen ein, die aufgrund unterschiedlicher Möglichkeiten der Wahrnehmung oder Beteiligung an den Gründungsschritten entsprechend unterschiedlich oder dicht ausfallen können.
Bei den Zeitzeugen handelt es sich zum einen um Prof.em. Dr. Hans-Ulrich Deppe (Universität Frankfurt), der als Gründungsmitglied 1972 zum ersten Vorsitzenden der DGMS gewählt wurde. Ihm kommt das besondere Verdienst zu, dass er viele Dokumente aus der Gründungszeit gesammelt und dem Archivzentrum der Universitätsbibliothek Frankfurt nach seiner Emeritierung überantwortet hat.* Diese bildeten die Grundlage seiner aus dem Jahr 1978 stammenden Übersichtsarbeit zur Gründungsgeschichte der DGMS, die wir hier gerne auszugsweise mit seiner Erlaubnis den Mitgliedern und einer interessierten Fachöffentlichkeit zur Kenntnis bringen wollen. Ein über diesen Link (im pdf-Format) ebenfalls von ihm bereitgestelltes sog. ‚Findbuch‘ gibt darüber hinaus Auskunft über den hochinteressanten Archivbestand auch zu Themen der Lehre in der Medizinischen Soziologie.
Der zweite Zeitzeuge ist der sicherlich allen nicht nur in Deutschland, sondern auch international lehrenden und forschenden Medizinsoziolog:innen bestens bekannte Prof.em. Dr. Johannes Siegrist (Seniorprofessor, Universität Düsseldorf), der seine Erinnerungen aus Anlass des 50jährigen Bestehens der DGMS noch einmal festgehalten hat. Sie finden sich in dem von ihm, Ulrich Stößel und Alf Trojan herausgegeben Sammelband ‚Medizinische Soziologie in Deutschland: Entstehung und Entwicklungen‘. Auch er hat einige Jahre im Vorstand die Geschicke unserer Fachgesellschaft wesentlich mitbestimmt.
Es liegt in der Natur der Sache, dass es an einigen Stellen beider Darstellungen zu Doppelungen kommt, da die Texte unabhängig voneinander entstanden sind. Dies bitten wir zu entschuldigen.
Der Vorstand der DGMS dankt sicherlich auch im Namen seiner Mitglieder beiden aufs Herzlichste dafür, dass sie mit Ihren Beiträgen daran erinnern, wie schwer, aber auch wie wichtig die Institutionalisierung dieses eigenständigen Faches in der deutschen Hochschullandschaft war und ist.
* Umfassende weitere Materialien : Archivzentrum der Johann Wolfgang Goethe-Universität Frankfurt (Arcinsys), Dokumente zur Institutionalisierung der Deutschen Gesellschaft für Medizinische Soziologie 1972 ff
Zur formellen Institutionalisierung in der Medizinischen Soziologie
Hans-Ulrich Deppe (Frankfurt)
Auszug aus: Deppe, H.-U. (1978). Zur Entwicklung der Medizinischen Soziologie in der Bundesrepublik Deutschland (S.35-48). In Deppe, H.-U., /Medizinische Soziologie. Aspekte einer neuen Wissenschaft. Fischer Taschenbuch-Verlag
Beim Übergang von den 6oer zu den 7oer Jahren entwickelt sich die Medizinische Soziologie von einer informellen wissenschaftlichen Disziplin, mit der sich in der Bundesrepublik mehr oder weniger voneinander isolierte Wissenschaftler aus persönlichen oder zufälligen Gründen beschäftigten, zu einer formell institutionalisierten Wissenschaft. Entscheidend dafür war das Jahr 1970, in dem die Approbationsordnung für Ärzte - also die neue - Ausbildungsordnung, die nicht zuletzt das Ergebnis der hochschulpolitischen Auseinandersetzungen um eine neue Universitätsstruktur war, im November Rechtskraft erlangte. Für unser Thema zeichnet sich diese Approbationsordnung dadurch aus, dass sie erstmals psychosoziale Stoffgebiete als Pflichtlehr- und Prüfungsfächer einführt. Dies sind im vorklinischen Bereich die Medizinische Soziologie und die Medizinische Psychologie; im klinischen Bereich handelt es sich um die Arbeitsmedizin, die Sozialmedizin und die Psychotherapie. Die Medizinische Soziologie soll sich nach der Approbationsordnung auf folgende Inhalte konzentrieren: »Rollenbeziehungen und -konflikte in den verschiedenen altersspezifischen Gruppenkonstellationen einschließlich Arzt-Patient-Beziehung. Soziale Schichtung; Bevölkerungsstruktur.«
Die erste Berufung für eine eigene Professur für Medizinische Soziologie in der Bundesrepublik wurde im Oktober 1972 vom Hessischen Kultusminister für die Universität Frankfurt ausgesprochen. Inzwischen (1978) gibt es für dieses Fach Professuren an den meisten Universitäten und Medizinischen Hochschulen.
Jene Universitäten, die bisher noch keine Professur für Medizinische Soziologie eingerichtet haben, versuchen die medizinsoziologische Lehre durch Lehraufträge abzudecken. Dies ist allerdings nicht im Interesse einer stabilen Entwicklung der Medizinischen Soziologie, da Lehraufträge in der Regel nur ein begrenztes Lehrangebot ermöglichen und zudem keinerlei Mittel für die dringend notwendige Forschung auf dem Gebiet der Medizinischen Soziologie beinhalten. Seit 1973 wird nahezu an allen bundesrepublikanischen Universitäten und Medizinischen Hochschulen die Medizinische Soziologie gelehrt. Im August 1974 fand im Rahmen der ärztlichen Ausbildung die erste schriftliche Prüfung in der Medizinischen Soziologie statt und seitdem nach jedem Semester. Die Prüfungen werden im Rahmen der ärztlichen Vorprüfung schriftlich nach dem Prüfungssystem des ‚multiple choice‘ abgenommen; sie werden zentral vom Institut für medizinische und pharmazeutische Prüfungsfragen in Mainz organisiert und ausgewertet. Dieses Institut initiierte auch die Erarbeitung von Lehr- und Lernzielkatalogen für die einzelnen Stoffgebiete durch Vertreter der jeweiligen Fachgesellschaften und die Aufstellung und Sammlung von Prüfungsfragen. Zu diesem Zweck wurden für die jeweiligen Fächer Sachverständige von dem Prüfungsinstitut ernannt, die zur Auswahl der Prüfungsfragen und zur Beurteilung der Lernzielkataloge von dem Institut herangezogen werden. An dem lnstitut für medizinische und pharmazeutische Prüfungsfragen ist die Medizinische Soziologie von Anfang an lediglich durch einen Medizinsoziologen vertreten und dies erst nach heftigen Auseinandersetzungen. Die Medizinsoziologen sind in diesem wichtigen Institut nach wie vor (1978) unterrepräsentiert.
In unmittelbarem Zusammenhang mit der formellen Einführung der Medizinischen Soziologie als Prüfungsfach in die medizinische Ausbildung ist die Entwicklung fachspezifischer und berufspolitischer Organisationen zu sehen. Es handelt sich dabei um die Ständige Konferenz der Hochschullehrer für Psychotherapie/ Psychosomatik, Medizinische Psychologie und Medizinische Soziologie, der sich am 20. Februar 1971 in Mainz ein Teil der bundesrepublikanischen Medizinsoziologen anschloss. Die Ständige Konferenz war bis Mitte 1975 ein informeller und lockerer Zusammenschluss von Hochschullehrern, die sich in der Regel ein- bis zweimal pro Jahr trafen und in relativ unverbindlicher Weise für die Durchsetzung der neuen Fächer in der medizinischen Ausbildung eintraten. Von ihr wurde die erste Fassung eines Lehr- und Lernzielkatalogs für die Medizinische Soziologie entworfen. 1975 hat sich die Ständige Konferenz eine Satzung gegeben, d. h., sie ist zu einer formellen Organisierung übergegangen.
Da die organisatorische Zusammensetzung der medizinischen Soziologen in der Bundesrepublik Anfang der 7oer Jahre in der Ständigen Konferenz nur eine sehr lockere Verbindung darstellte, was ihre Vertretung in den entsprechenden wissenschaftlichen Institutionen - insbesondere gegenüber dem Institut für Medizinische und Pharmazeutische Prüfungsfragen in Mainz - erschwerte, wurde im Sommer auf einer Tagung der Lernzielkommission Medizinische Soziologie der Ständigen Konferenz in Ulm der Beschluss gefasst, am 4. November 1972, in Marburg, die Deutsche Gesellschaft für Medizinische Soziologie in der Bundesrepublik (DGMS) zu gründen (Protokoll als Faksimile im Anhang). Dies ist wie vereinbart geschehen. Zurückzuführen ist die Idee der Gründung einer Deutschen Gesellschaft auf einen Hinweis des Sozialpsychiaters und Soziologen Klaus Dörner, der damals Lehrbeauftragter für Medizinische Soziologie in Hamburg war. Er hatte nämlich kurz zuvor Erfahrungen mit der Gründung der Deutschen Gesellschaft für Soziale Psychiatrie gemacht und mir dies auch für die Medizinische Soziologie empfohlen.
Der DGMS ist es nach heftigen Auseinandersetzungen - insbesondere mit der Deutschen Gesellschaft für Sozialmedizin und deren Vorsitzenden H. Schaefer (Heidelberg) - gelungen, einen Lehr- und Lernzielkatalog für die Medizinische Soziologie und einen medizinischen Soziologen als Sachverständigen für dieses Fachgebiet am Institut für Medizinische und Pharmazeutische Prüfungsfragen in Mainz durchzusetzen.
Inzwischen (1978) hat sich die Deutsche Gesellschaft für Medizinische Soziologie zu der Fachgesellschaft der medizinischen Soziologen in der Bundesrepublik entwickelt. In ihr sind nahezu alle Hochschullehrer und medizinsoziologisch arbeitenden Wissenschaftler organisiert. Seit Januar 1975 wird von der DGMS das erste regelmäßig erscheinende medizinsoziologische Publikationsorgan für die Bundesrepublik herausgegeben. Es sind die Medizinsoziologischen Mitteilungen (später Medizinische Soziologie), die berufspolitischen und wissenschaftlichen Informationen der Deutschen Gesellschaft für Medizinische Soziologie in der Bundesrepublik. Die DGMS hat mit heftigen Schwierigkeiten zu kämpfen, dass sie nicht nur eine sehr tief sitzende Abneigung von Medizinern gegenüber der Soziologie zu überwinden hat, sondern sich darüber hinaus auch noch mit den unterschiedlichen wissenschaftstheoretischen Positionen innerhalb der Soziologie beschäftigen muss. Dennoch konnte sich die Deutsche Gesellschaft für Medizinische Soziologie in den ersten Jahren ihrer Existenz konsolidieren und muss in zunehmendem Maße als eigentliche Fachvertretung der Medizinischen Soziologie in der Bundesrepublik angesehen werden. Ferner hat sich im Rahmen der Deutschen Gesellschaft für Soziologie 1973 die Sektion Medizinsoziologie konstituiert. Sie trat erstmals im Rahmen des Deutschen Soziologentags im November 1974 mit einer eigenen Arbeitsgruppe, in welcher fachspezifische - das heißt medizinsoziologische - Probleme referiert wurden, an die wissenschaftliche Öffentlichkeit. Die Sektion Medizinsoziologie der Deutschen Gesellschaft für Soziologie sieht ihren Schwerpunkt darin, die Forschung auf dem Gebiet der Medizinischen Soziologie auszuweiten und zu vertiefen.
Ende 1976 richtete die Deutsche Forschungsgemeinschaft einen Forschungsschwerpunkt »Medizinsoziologie« ein, für den jährlich etwa 800.000 DM ausgegeben werden sollen.
Ein wichtiger Fortschritt auf dem Wege der Institutionalisierung ist die Einführung einer Pflichtlehrveranstaltung für Medizinische Soziologie. Nach den Entwürfen zur »Zweiten Verordnung zur Änderung der Approbationsordnung für Ärzte« vom 10. Juli und 15. November 1977 sowie der Bundesratsvorlage vom 5. Januar 1978 soll ab 1979 ein »Kursus der Medizinischen Soziologie« für alle Medizinstudenten verbindlich werden.
Die organisatorische Zusammenfassung der Medizinsoziologen in der Bundesrepublik ist äußerst wichtig. Die Medizinische Soziologie ist zwar in die ärztliche Ausbildung als Pflichtfach eingeführt, gleichwohl muss sie sich noch immer gegen den Widerstand der etablierten Medizin durchsetzen und behaupten. Schwierigkeiten ergeben sich bei der Besetzung der Sachverständigen für Medizinische Soziologie am Institut für Medizinische Prüfungsfragen in Mainz, bei der Einrichtung und Besetzung von Professuren, bei der inhaltlichen Gestaltung der Lehre mittels des Lernzielkatalogs, der unter dem starken Einfluss von Medizinern modifiziert wurde, bei der finanziellen und personellen Ausstattung der Abteilungen Medizinische Soziologie und bei der Auseinandersetzung mit konservativen Tageszeitungen sowie Gazetten der ärztlichen Standespolitik, die gegen die Medizinische Soziologie in der ärztlichen Ausbildung heftig polemisieren.
Medizinische Soziologie in Deutschland: die Gründungsphase 1970-1990
Johannes Siegrist (Düsseldorf)
Auszug aus J. Siegrist: Die Entwicklung der Medizinischen Soziologie in Deutschland, in: J. Siegrist, U. Stößel, A. Trojan (Hrsg.): Medizinische Soziologie in Deutschland: Entstehung und Entwicklungen. Springer Nature 2022
In der Bundesrepublik Deutschland sind bereits vor 1970 einzelne prominente Publikationen mit medizinsoziologischem Bezug veröffentlicht worden. Zu nennen sind insbesondere das unter Leitung des Soziologen René König herausgegebene Sonderheft ‚Probleme der Medizin-Soziologie‘ der Kölner Zeitschrift für Soziologie und Sozialpsychologie (1958), die Bücher zu sozialem Wandel und Krankheit von Manfred Pflanz (1962), zur Soziologie des Krankenhauses von Johann Jürgen Rohde (1962), und zu Stabilität und Wandel ärztlicher Autorität von Heidrun Kaupen-Haas (1969). Breitere Verbreitung fand auch der von dem Psychoanalytiker Alexander Mitscherlich und anderen herausgegebene Sammelband ‚Der Kranke in der modernen Gesellschaft‘ (Mitscherlich et al. 1967). Es handelte sich hierbei jedoch um vereinzelte Vorstöße ohne nennenswerte wissenschaftspolitische Folgen. Weder an soziologischen Instituten noch in medizinischen Fakultäten waren Professuren dieser Fachbezeichnung etabliert, und medizinsoziologische Dissertationen und Habilitationen waren, wenn überhaupt, seltene Ereignisse. Die Gründung der Medizinischen Soziologie als einer universitären Disziplin verdankt sich hierzulande ausschließlich einem externen Ereignis, der Neuordnung der ärztlichen Ausbildung durch die Verabschiedung einer neuen Approbationsordnung im Jahr 1970. Allerdings muss das gesellschaftspolitische Klima, welches diese Neuordnung begünstigt hat, erwähnt werden. Die antiautoritäre Studentenbewegung der 1968 Jahre, verbunden mit einer wirkmächtigen Kritik an sichtbaren Mängeln des Systems der Krankenversorgung (‚Zwei-Klassenmedizin‘; ´Elend der Anstaltspsychiatrie‘; ‚fehlende Vernetzung stationärer und ambulanter Versorgung‘; ‚vernachlässigte Prävention‘ u.a.), trug dazu bei, dass diese Ausbildungsreform neue Inhalte aus sozial- und verhaltenswissenschaftlichen Fächern aufnahm. Verstärkt wurde diese Innovation durch den unterstützenden Einfluss von Psychosomatik und Psychotherapie - Disziplinen, die einem naturwissenschaftlich verengten Verständnis von Gesundheit und Krankheit ein biopsychosoziales Modell entgegensetzten und damit einer ‚sprechenden Medizin‘ mehr Bedeutung zukommen ließen. Als eines der Ergebnisse dieser Reform wurden die Fächer ‚Medizinische Psychologie‘ und ‚Medizinische Soziologie‘ als Lehr- und Prüfungsfächer im vorklinischen Unterricht des Medizinstudiums verankert. Dies veranlasste eine Reihe medizinischer Fakultäten, Professuren und entsprechend ausgestattete Institute für diese Fächer einzurichten. Da der medizinsoziologische Unterricht zwar der Vorbereitung auf eine bundesweite Prüfung diente, jedoch im Gegensatz zur Medizinischen Psychologie nicht mit einem eigenständigen Pflichtkurs bedacht worden war, erfolgte die entsprechende Institutionalisierung in geringerem Umfang als jene der Medizinischen Psychologie. Immerhin wurden zwischen 1970 und 1990 Lebenszeitprofessuren an 14 medizinischen Fakultäten eingerichtet. Dies war der Fall an den Universitäten Gießen, Ulm, Hannover, Frankfurt, Marburg, Hamburg, Freiburg i. Br., Göttingen, Münster, Düsseldorf, Regensburg und etwas später Köln, Berlin und Halle. Trotz vereinzelter Rekrutierungsprobleme gelang es den medizinischen Fakultäten in der Mehrzahl, für ihre Stellenausschreibungen Bewerber und Bewerberinnen mit einer primär sozialwissenschaftlichen Qualifikation zu gewinnen.
Soziologie innerhalb medizinischer Fakultäten
Dieser rasche Institutionalisierungsschub einer neuen, aus einem der Medizin bisher fremden Wissenschaftsbereich stellt, im internationalen Vergleich, einen Sonderweg dar. Obwohl auch in einigen anderen europäischen Ländern medizinsoziologische Lehre Eingang in das Medizinstudium gefunden hatte, waren dort im Vergleich weniger neue Professuren innerhalb medizinischer Fakultäten eingerichtet worden, und zugleich bestand eine engere Kooperation mit der an sozialwissenschaftlichen Fakultäten etablierten Soziologie. In Großbritannien waren beispielsweise in dem hier betrachteten Zeitraum bis zu 50 Prozent der akademisch tätigen Medizinsoziologinnen und -soziologen an sozialwissenschaftlichen Fakultäten angesiedelt, im Vergleich zu einem knappen Fünftel der an medizinischen Fakultäten Beschäftigten. Das übrige Lehr- und Forschungspersonal rekrutierte sich aus nicht-universitären Forschungseinrichtungen (Annandale & Field 2001). Dies wirft die Frage auf, warum es in Deutschland nicht gelungen ist, die beiden Richtungen einer medizinferneren Gesundheitssoziologie und einer medizinnäheren Medizinsoziologie zusammenzuführen und damit die Verbindungen zur allgemeinen Soziologie, zu ihrem Theorienbestand und ihrem Methodenspektrum, zu stärken. Hier muss zunächst festgehalten werden, dass schulbildende Pioniere der Soziologie, welche die Entwicklung der Subdisziplin beflügelten, wie vor allem Talcott Parsons, Robert K. Merton und Eliot Freidson in den USA oder George W. Brown (Brown & Harris 1978) in Großbritannien, in der deutschen Soziologie fehlten. Es fehlten auch jene lebenslang engagierten Soziologinnen und Soziologen in akademischen Schlüsselpositionen, die sich für die Etablierung der Subdisziplin eingesetzt hatten, wie Margaret Stacey (Bradby 2015) und Margot Jefferys (1996) in Großbritannien oder William C. Cockerham (1998) in den USA. Erschwerend kam hinzu, dass die deutsche Soziologie, im Gegensatz zu Nachbardisziplinen wie Psychologie oder Ökonomie, den akademischen Professionalisierungsprozess ihres Faches durch Schaffung verbindlicher Spezialisierungen vernachlässigte. Lehrstühle mit inhaltlichem Bezug zu medizinsoziologischer Thematik gab es vereinzelt in der Politikwissenschaft (Gesundheitspolitik) und in den Wirtschaftswissenschaften (Gesundheitsökonomie), kaum jedoch in der Stammdisziplin (von Ferber 1971). 1975 wurde eine gesundheitssoziologische Sektion im Rahmen der Deutschen Gesellschaft für Soziologie gegründet. In den darauffolgenden Jahren hat sich zunehmend eine produktive Kooperation zwischen den an zwei unterschiedlichen Fakultäten etablierten Subdisziplinen, insbesondere in der Forschung, herausgebildet (s.u.).
Die Gründung der Deutschen Gesellschaft für Medizinische Soziologie (DGMS) im Jahr 1972 erfolgte allerdings nicht in erster Linie als Reaktion auf eine fehlende organisatorische Einbindung dieser Subdisziplin in ihre Stammdisziplin. Vielmehr bestand akuter Handlungszwang vonseiten des medizinischen Prüfungssystems. Auf Druck der Studentenbewegung wurde mit der Approbationsordnung von 1970 ein bundeseinheitliches schriftliches Prüfungssystem eingeführt, welches den Wissensstand für jedes Prüfungsfach anhand der Beantwortung von multiple choice-Fragen vorsah. Hierzu wurde ein neues zentrales Prüfungsinstitut (IMPP) in Mainz eingerichtet, und in Kooperation mit den medizinischen Fakultäten wurde vereinbart, dass die Festlegung von Gegenstandskatalogen und die Entwicklung inhaltlicher Prüfungsfragen durch ausgewiesene Experten und Expertinnen aus jedem Fachgebiet erfolgen sollte. Voraussetzung einer Berufung als Sachverständige(r) waren Habilitation oder Professur an einer medizinischen Fakultät sowie Benennung im Einvernehmen mit der jeweiligen wissenschaftlichen Fachgesellschaft der Disziplin. Gelang es nicht, für die Medizinische Soziologie eine entsprechende Fachgesellschaft vorzuweisen und aus ihrem Mitgliederkreis eine die Berufungskriterien erfüllende Person zu benennen, dann bestand die Gefahr, dass das Fach über kurz oder lang aus dem Lehr- und Prüfungsbetrieb der Medizin ausscheiden würde. Dies war der entscheidende Impuls zur Gründung der neuen Fachgesellschaft. Bis zum heutigen Tag besteht eine wirkungsvolle Zusammenarbeit zwischen Sachverständigen, die aus Mitgliedern dieser neuen Fachgesellschaft rekrutiert werden, und dem Mainzer Institut bei der Gestaltung von Prüfungen und der Weiterentwicklung des medizinischen Curriculums.
Die zitierte Literatur findet sich im Literaturverzeichnis des Buch-Beitrags, dem dieser Auszug entnommen ist.